Sitzung des Serbski Sejm 2020 in Wüstenhain.

Der Kipp-Punkt ist längst erreicht

Die Sorben sind in eine Phase ihrer Geschichte getreten, die über ihre Zukunft entscheiden wird. Der Kipp-Punkt ist längst erreicht. Das Absterben einer autochthonen Kultur ist der denkbar schlimmste kulturelle Wandel in einer funktionierenden Demokratie. Entweder verschwinden die Sorben von der Landkarte, oder es gelingt ihnen ein neuer Ansatz. Hierzu sind eine konstruktive Debatte und ein konsequentes Handeln nötig, ohne Tabus.

Zweifellos ist eine effektive Selbstbestimmung der beste Weg zum Selbsterhalt und besser als eine noch so gut gemeinte Fremdbestimmung. Die Sorben möchten nicht mehr als Minderheit wahrgenommen werden, sondern als Volk, das seine Angelegenheiten – wie jedes andere auch – selbst in die Hand nimmt und über seine Geschicke selbst entscheidet.

Beharrlich setzte sich die Initiative für eine demokratisch legitimierte sorbische Volksvertretung ein, um ein reges sorbisches Leben in der Lausitz aufrecht zu erhalten. Schließlich initiierte sie die erste freie Wahl zu einer tatsächlich demokratisch legitimierten Volksvertretung der Sorben und Wenden. Indes hat der Dachverband sorbischer Vereine, die Domowina – unterstützt durch einige von ihr beeinflusste Medien – alles getan, um diese demokratische Wahl zu verhindern.

Nach der erfolgreichen Wahl konnte sich die Initiativgruppe planmäßig auflösen und der Serbski Sejm ins Leben treten. Auf seiner konstituierenden Sitzung am 17. November 2018 in Schleife hielt Dr. Měrćin Wałda, Gründungsmitglied der Initiativgruppe und als einer ihrer Sprecher, die Festrede, die hier erstmals abgedruckt werden kann. Da der Serbski Sejm weiterhin von der Domowina abgelehnt wird, hat die Festrede nichts an ihrer Aktualität eingebüßt.

Sieben bewegte Jahre lang hat die Initiativgruppe den Weg dafür bereitet, dass sich heute die erste frei gewählte, demokratisch legitimierte Volksvertretung der Sorben und Wenden konstituieren kann: Der Serbski Sejm tritt ins Leben. Damit löst sich die Initiativgruppe plangemäß auf. All jenen, die über die Jahre hinweg an der Bereitung des Wegs mitgearbeitet und große persönliche Mühen auf sich genommen haben, sei von Herzen gedankt – im Namen der Initiativgruppe, im Namen des sorbischen/wendischen Volks, im Namen der auf uns folgenden Generationen. Auch all denen, die nur ein Stück des Wegs mit uns gegangen sind, sei aus vollem Herzen gedankt. Und Dank gebührt auch jenen kritischen Stimmen, die uns geholfen haben, bei manchem Höhenflug der Wünsche das Machbare wiederzufinden und gut geerdet zu bleiben.

Als Kulturwissenschaftler kommt mir die Aufgabe zu, den Anlass der heutigen Zusammenkunft in den historischen Kontext einzuordnen. Denn in den Geschichtsbüchern wird eines Tages zu lesen sein: »Kurz vor dem drohenden Untergang seiner Sprache, seiner Kultur und den sozialen Fähigkeiten, womit dieses Volk heute die Welt bereichert, haben sich die Sorben und Wenden auf sich selbst besonnen. Gerade noch rechtzeitig ist es ihnen damals, im Jahr 2018, gelungen, zum ersten Mal in ihrer tausendvierhundertjährigen Geschichte eine demokratisch legitimierte Volksvertretung, den Serbski Sejm, zu wählen. Der Serbski Sejm machte es möglich, im Verlauf der ersten Jahre nach seiner Gründung die politischen Rahmenbedingungen in den deutschen Bundesländern Brandenburg und Sachsen so mitzugestalten, dass das Volk der Sorben und Wenden heute das ihm völkerrechtlich zustehende Recht auf Selbstbestimmung in vollem Umfang in Anspruch nehmen kann.«

Der »damals« drohende Untergang unserer Sprache, unserer Kultur, unserer Traditionen, unseres Selbstverständnisses als Volk – das meint tatsächlich unsere Gegenwart! Sorbische Schulen werden geschlossen, sorbische Lehrer fehlen, sorbische Kirchen, Institutionen, politische Parteien und Ämter finden keinen Nachwuchs. Die Berichte über die Lage der Sorben schreiben nicht die Sorben, sondern die deutschen Landesregierungen. Über Schulschließungen werden wir erst informiert, wenn dies von deutschen Politikern beschlossen wurde. Das Sorbische wird aus Schulen und Ämtern verbannt, unsere Kultur wurde zur musealen Tourismusattraktion marginalisiert, die Braunkohleindustrie hat uns von unseren Äckern vertrieben und unzählige Dörfer weggebaggert. In den Nachfolgelandschaften erinnert nichts mehr an sorbisches Leben. Der Domowina-Vorsitzende David Statnik lässt sich in der deutschen Wochenzeitung »Die Zeit« mit dem Fazit zitieren: »Dass unsere Sprache ausstirbt, ist Fakt!«

Doch der Widerstand gegen den drohenden Untergang war nicht unser einziges Motiv, als wir vor sieben Jahren begannen, den Weg für ein sorbisches/wendisches Parlament auf Augenhöhe mit den politischen Entscheidungsebenen des Landes, in dem wir leben, zu bahnen. Es geht um die gesamte Art und Weise, wie sorbische Politik gemacht wird. In dieser dramatischen Wendezeit, in der sich das politische Denken völlig neu ordnen muss, helfen die besten Minderheitengesetze und auch der engagierteste Vereinsdachverband nichts, wenn eine politische Kraft fehlt, die mit der demokratisch legitimierten Kompetenz ausgestattet ist, die Rechte der Sorben und Wenden wirksam durchzusetzen, deren Einhaltung zu kontrollieren und ihre Anwendung politisch zukunftsweisend zu gestalten.

Wann, wenn nicht jetzt – so fragten wir uns –, ist der richtige Zeitpunkt, das sorbische/wendische Gemeinwesen neu zu denken? Wann, wenn nicht jetzt, gilt es, die besten Kenntnisse, Fähigkeiten und Traditionen unseres Volkes – zu denen unser Gemeinsinn, unsere über Jahrhunderte bewiesene Friedfertigkeit und unsere tiefe Achtung der Natur gehören – für die Rückkehr der Menschengemeinschaft in die Gebote der planetaren Grenzen einzusetzen?

Tatsächlich gab es noch nie eine solche Hochkonjunktur der Freiheits- und Menschenrechte wie heute. Viele der kleinen Völker Europas haben die Gelegenheit ergriffen und sich politische Mündigkeit erarbeitet. In der Charta für ein Europa der Regionen aus dem Jahr 2013 wird betont, dass die Regionen sich selbst gehören, sich von unten aufbauen und Träger politischer und kultureller Souveränität werden sollen.

Warum sollen Rechte, deren Gewährung in vielen europäischen Ländern selbstverständlich geworden ist, nicht auch für uns Sorben und Wenden gelten? Demokratische Rechte sind keine Belohnung, die ein Volk wie wir als Almosen von Gnaden der Staatsgebilde, in denen wir aufgrund historischer Machtfügungen zufällig leben, erhalten dafür, dass wir dieses oder jenes geleistet haben und immer noch leisten, um uns etwa Gleichheit zu verdienen!

In den zurückliegenden Jahren wurde uns immer wieder vorgehalten, dass für das Sorbentum in Deutschland doch vieles getan werde. Unsere Institutionen sicherten uns doch die politische Partizipation und Mitsprache. Wir sollten mit dem Bewährten zufrieden sein. Wer würde überhaupt so einen Sejm wollen?

Diese feierliche Stunde gibt Antwort auf jene Vorhaltungen. Sie teilt unsere Geschichte in die Zeit vor einem Serbski Sejm und in die Zeit, die auf die Konstituierung des ersten Serbski Sejm nun folgt. Mag auch die Tragweite dieser feinen historischen Scheidelinie erst wenigen bewusst sein, so markiert die nunmehrige Existenz einer demokratisch legitimierten Volksvertretung der Sorben und Wenden nichts weniger als einen Paradigmenwechsel.

Seit den Forschungen von Thomas S. Kuhn in den 1960er Jahren wissen wir, wie sich paradigmatischer Wandel vollzieht: Zur bisherigen Norm gehört alles, was bekannt ist und mit Hilfe des Bekannten erklären kann, warum die Welt so ist, wie sie ist. Wer sich an gewissen sogenannten Anomalien stört und daraus folgert, dass das »Normalsystem« so nicht ganz stimmen kann, wird zuerst ignoriert, dann lächerlich gemacht, als unseriös und illusorisch diffamiert. Gelingt es den “Neudenkern” jedoch, mit Hilfe neuer Denkansätze die Anomalien im bisherigen System überzeugend in eine neue Welterklärung zu integrieren, kippt das alte Denkgebäude in kurzer Zeit. Was zuvor als lächerlich, unseriös und illusorisch abgetan worden war, wird nun als neues Paradigma akzeptiert. In seinem Erklärungsrahmen wird während der nächsten Epoche gedacht und gehandelt werden – so lange, bis auch dieses Modell durch ein neues ersetzt wird. Denn kein Modell ist perfekt und gilt für alle Zeiten!

Eines der problematischsten Paradigmen innerhalb der sorbischen/wendischen Gesellschaft habe ich bereits genannt: Es ist die Auffassung, wir Sorben und Wenden würden durch unsere Institutionen politisch vertreten, unter anderem durch die Stiftung für das sorbische Volk, einzelne sorbische Institutionen, den Vereinsdachverband Domowina und andere Vereine, zwei Sorbenräte oder die sorbischen Kommunen. Aber es gibt keine Institution, die alle zusammenführt, um gemeinsam sorbische Angelegenheiten strategisch zu planen und zu regeln. Untersuchen wir diese Art der Vertretung genauer, so wird eine groteske Anomalie im System sichtbar, die letztlich zum zentralen Auslöser für die Arbeit der Initiativgruppe wurde: Es geht um den Begriff der Partizipation.

Partizipieren heißt wörtlich »teilnehmen«. Im Deutschen wird großzügigerweise auch statt des »Nehmens« eines Teils »vom« Ganzen auch von der »Teilhabe« »am« Ganzen gesprochen. Letzteres gibt das eigentlich Gemeinte – nämlich nicht erst nehmen zu müssen, sondern einer Sache a priori teilhaftig zu sein – besser wieder. Im Zusammenhang mit der Erarbeitung der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1989 wurde ein Stufenmodell der Partizipation erarbeitet, das heute als Gradmesser für die Beteiligung beliebiger Gruppen am politischen Gemeinwesen dient. Indem ich die neun Stufen der Partizipationsleiter nun aufzähle, lade ich Sie ein, die Ihnen bekannten sorbischen/wendischen Institutionen und Organisationen innerlich Revue passieren zu lassen und sie auf die jeweils zutreffende Stufe zu stellen:

Die erste Stufe heißt »Fremdbestimmung«. Über Wohl und Wehe einer Gruppe entscheidet eine äußere Instanz, die ihre Ziele nicht offenbart. Häufig werden die Betroffenen durch Machtmittel in Richtung des Fremdziels manipuliert. Als historisches Beispiel mag die Losung »Divide et impera!« – »Teile und herrsche!« –, dienen. Darunter leidet unser Volk seit Jahrhunderten.

Auf der zweiten Stufe dient die betroffene Gruppe als »Dekoration« einer Veranstaltung anderer. Die Mitglieder der Gruppe werden beispielsweise für ihren folkloristischen Beitrag beklatscht. Danach treten sie ab und haben keinerlei Einfluss auf Ziele und Fortgang der Veranstaltung.

»Alibi-Teilnahme« nennt man die dritte Stufe: Man wird zum Besuch von Konferenzen eingeladen, auf denen Fachleute über Belange der Gruppe, der man angehört, diskutieren. Man darf selbst sprechen, doch Entscheidungen treffen allein übergeordnete Stellen. Man kann die Einladung annehmen oder ablehnen; die Veranstaltung findet auch ohne die Betroffenen statt.

Auf der vierten Stufe kommt es erstmals zu einer gewissen »Teilhabe«: Externe Entscheidungsträger hören die betroffene Gruppe an, die selbst ein Bild von ihrer jeweiligen Situation zeichnet. Die Betroffenen haben jedoch keinen Einfluss darauf, ob und in welcher Form ihre Meinung in die Entscheidungen einfließt.

Auf der fünften Stufe findet eine gewisse Einbeziehung in externe Entscheidungen statt: Mitglieder der betroffenen Gruppe werden als »Berater« engagiert. Die Gruppe wird informiert, so dass sie sich eine Meinung bilden kann, und diese wird bei den Entscheidungen berücksichtigt – oder auch nicht.

Die sechste Stufe bietet »Mitwirkung« an: In Abstimmungsprozessen räumen die externen Entscheidungsträger der betroffenen Gruppe ein Mitspracherecht ein. Die Entscheidungsbefugnis liegt aber weiterhin bei externen Kräften.

Die Stufe sieben gewährt der betroffenen Gruppe das Recht zur »Mitbestimmung«. Gewisse Entscheidungskompetenzen in eigener Sache werden ihr übertragen. Die letztliche Entscheidungsmacht, beispielsweise über Budgets oder den Unterhalt bestimmter Einrichtungen liegt jedoch weiterhin in den Händen externer Kräfte.

Auf der achten Stufe endlich finden wir zur »Selbstbestimmung«. Die betroffene Gruppe entwickelt ihre Vorhaben selbst und verfügt über uneingeschränkte Entscheidungsmacht. Übergeordnete Stellen begleiten die Entscheidungsprozesse und tragen sie mit, ohne eigene Interessen durchzusetzen.

Aber erst die neunte und letzte Stufe der Partizipationsleiter löst die Abhängigkeit von Vorhaben und Entscheidungen äußerer Kräfte auf: Die Stufe der »Selbstorganisation« kennt keine übergeordneten Stellen oder externe Entscheidungsträger mehr. Sie übersteigt das Prinzip der Partizipation: Die Mitglieder der betroffenen Gruppe initiieren ihre Vorhaben selbständig und eigenverantwortlich, ohne jemanden um Erlaubnis fragen zu müssen. Sämtliche Entscheidungsträger gehören zur betroffenen Gruppe. Andere am größeren Ganzen teilhabende Gruppen werden lediglich informiert. Bei gruppenübergreifenden Anliegen treten die Betroffenen als gleichgewichtige Partner in die Aushandlungsprozesse ein.

Haben Sie, verehrte Anwesende, die Struktur unserer sorbischen/wendischen Gesellschaft in den Sprossen der Partizipationsleiter wiedererkannt? Dann sehen sie, was uns bisher gefehlt hat und welchem Zweck der Serbski Sejm in Zukunft dienen wird: Alle bisherigen Institutionen des sorbischen/wendischen Volks haben die Partizipationsleiter nicht höher als bis Stufe sechs erklommen. Mit dem Sejm wandeln wir nun das alte Paradigma, dass diese sechste Stufe als Ende aller Möglichkeiten vorspiegelt, um und machen uns daran, die Stufen sieben, acht und neun – »Selbstbestimmung« und »Selbstorganisation« – im politischen Handeln zu verwirklichen.

Dass dies keine Selbsterhöhung, keine Selbstüberschätzung und schon gar keine Traumtänzerei ist, beweisen starke Stimmen namhafter Wissenschaftler, die uns in den vergangenen Jahren zugeraten haben, den Schritt von der Partizipation hin zu Selbstbestimmung und Selbstorganisation zu wagen.

So monieren sämtliche Gutachten, die von der Stiftung für das sorbische Volk zu diesem Thema bestellt wurden – wie zum Beispiel die von Prof. Peter Pernthaler aus Innsbruck oder Prof. Markus Kotzur aus Hamburg –, dass die politische und juristische Vertretung der Sorben/Wenden nun schon 30 Jahre nach der demokratischen Revolution noch immer nicht geregelt ist, und fordern demokratische Wahlen. Dieselben Schlussfolgerungen zieht auch Prof. Matthias Vogt aus Görlitz in seinem umfangreichen »Gesamtkonzept zur Förderung der sorbischen Sprache, und Kultur« und in den »Empfehlungen zur Stärkung der sorbischen Minderheit durch Schaffung eines abgestimmten Selbstverwaltungs-, Kooperations-, Projekt- und Institutionenclusters«. Kritisch betont er: »Sorbenförderung versteht sich derzeit als Gnadenerweis und ist nicht Ausdruck einer gezielten Strategie, sondern von Unsicherheiten.« Und weiter sagt er: »Gemessen am Anspruch einer kontinuierlichen Erneuerung der sorbischen Gesellschaft, Kultur und Sprache ist das derzeitige sorbische Institutionenbündel hochgradig dysfunktional. Eine übergreifende Strategie, die sowohl die sorbische Kultur wie die sorbische Sprachpflege einbegreifen würde, ist nicht zu erkennen.« Als Resultat seines Gutachtens berief die Stiftung für das sorbische Volk im Jahr 2011 mehrere Arbeitsgruppen ein, unter anderem eine zum Thema »Körperschaft des öffentlichen Rechts«. Letztere Arbeitsgruppe schlug zwei Modelle zur Neuordnung der politischen Interessenvertretung des sorbischen/wendischen Volkes vor. Die Bundesregierung versprach, die Arbeitsgruppenergebnisse zu beraten und die notwendigen Maßnahmen zu beschließen. Dass dies jedoch nicht vollzogen wurde und der Stiftungsrat das Erarbeitete tatenlos zu den Akten legte, wirft ein Licht darauf, auf welcher Sprosse der vorhin beschriebenen Partizipationsleiter unter anderem die Stiftung steht.

Auch der international anerkannte Völkerrechtler Prof. Oeter aus Hamburg unterstützt die Demokratiebewegung. Die angeblich fehlende Gesetzlichkeit für demokratische Wahlen der Sorben weist er ausdrücklich zurück: Die funktionale Autonomie habe im deutschen Verfassungsrecht in vielen Bereichen eine lange Tradition, in denen Gruppen ihre inneren Angelegenheiten autonom gestalten und regeln können. »Die Konstruktion der (Personal-)Autonomie über die Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltungskörperschaft der Sorben würde sich problemlos in den Rahmen des deutschen Verfassungsrechts einfügen. Diese ließe sich durch demokratische Wahlen aller Sorben, die sich in ein Wahlregister eintragen, etablieren und wäre damit ein demokratisch legitimierter Ansprechpartner für den Staat. Gleichzeitig würde sie die gegenwärtige, stark zersplitterte sorbische Institutionenlandschaft der Sorben und die verschiedenen Strömungen innerhalb des sorbischen Volkes ausbalancieren, auch eine stärkere pluralistische Repräsentation und Willensbildung erzeugen, wozu die bisherige Vereinslösung nicht in der Lage ist.«

Die aktuelle Wahl zum Serbski Sejm war nun ein Höhepunkt in einer lange währenden Debatte über eine demokratisch gewählte parlamentarische Volksvertretung. Sie zeigt, dass die Sorben und Wenden sich selbst gehören und ihr Gemeinwesen erfolgreich selbst gestalten können, ohne »nationale« Grenzen oder eigenes Territorium zu besitzen. Wenn es gelingt, die Meinungsbildung im Sejm wie in der ganzen sorbischen/wendischen Gesellschaft in Rückbesinnung auf tiefe Wurzeln unserer Kultur egalitär und konsensierend zu gestalten, können soziales Engagement geweckt, Zusammenhalt geschaffen und gemeinsame Werte begründet werden.

Der Serbski Sejm wird ein dynamisches Kontinuum sein. In einem lebendigen Gemeinwesen darf man nie alles fertig haben, wenn die Menschen ihre Visionen einbringen, fantasievoll mitbestimmen und tatkräftig selbst organisieren sollen, wie sie in Zukunft leben wollen. Dazu bedarf es eines neuen Verhältnisses von individueller und gemeinsamer Initiative, erneuerte Körperschaften und Institutionen. Zur Erneuerung im Sinn des neuen Paradigmas sind nun alle unsere großen Institutionen, allen voran unser würdiger Vereinsdachverband Domowina, sowie die sorbischen/wendischen Kommunen eingeladen, in denen sorbisches Wissen, Erfahrungen und Emotionen generiert werden.

Verehrte Zeuginnen und Zeugen dieser bedeutenden Stunde – für das Organ, das wir hiermit der sorbischen/wendischen Gesellschaft übergeben, haben wir das Wort gewählt, das in unserer eigenen Sprache am besten ausdrückt, was wir benötigen und wollen: »Serbski Sejm«! Der Sejm ist unser Parlament, das wir selbst bestimmen und selbst organisieren, das wir in freier Wahl gewählt haben und in Zukunft wählen, in das wir die Menschen entsenden, denen wir zutrauen, am besten im Sinn des Ganzen, im Sinn des Gemeinsamen, in Verantwortung vor den kommenden Generationen Entscheidungen auszuhandeln, die uns alle ein gutes Leben in diesem, unserem Land, mit unseren engen und weiten Nachbarn, mit allem, was auf dieser Erde lebt und auch in Zukunft leben will, zu sichern.

Wir sagen bewusst: »Sejm« – das ist eine große Form! Mag die bloße Zahl der Menschen, die sich zu unserem Volk bekennen, im Verhältnis zur Erdbevölkerung klein sein. Als Volk jedoch sind wir nicht kleiner oder größer als jedes andere Volk, mit dem wir unseren Heimatplaneten teilen. Wir haben große Töchter und Söhne in die Welt entlassen. Wir haben es fertiggebracht, viele Jahrhunderte lang in Frieden und Eintracht miteinander und mit unseren Nachbarn zu leben. Trotz steter Unterdrückung, trotz Diskriminierung, Ausbeutung und der Zerstörung unserer Landschaften und Heimatdörfer bis in die Gegenwart hinein haben wir die Kultur und das wirtschaftliche Wohlergehen des Landes, das es noch gar nicht gab, als wir hier schon siedelten, bereichert. Jetzt wollen wir unseren Beitrag zu einer gelingenden Welt endlich aus dem vollen Selbstbewusstsein heraus leisten, das jedem Volk eigen ist, zu dessen freiem Ausdruck sich alle Völker aufschwingen sollten und das irgendwann auch allen Völkern in Freiheit zugestanden werden wird. Das wollen wir mit dem neu geschaffenen Organ unseres Gemeinwesens tun,

• indem wir vom Bittsteller zum Mitgestalter, von einer durch Privilegien und Gnadenerweise ruhiggestellten sogenannten Minderheit zum gleichberechtigten Partnervolk in den Grenzen Deutschlands werden, und

• indem wir als selbstbewusstes, selbstbestimmtes, begabtes und fähiges Volk den uns zukommenden Teil der Menschheitsaufgabe – die Sorge für eine enkeltaugliche Zukunft – schultern und aufrechten Mutes, starken Herzens und in liebevoller Zugewandtheit zu allem, was lebt, meistern!

Lasst uns diese Stunde als Beginn einer großen Aufgabe würdigen! Lasst sie uns als die Stunde in unserer langen Geschichte feiern, in der zum ersten Mal der Keim für ein neues Zeichen der uneingeschränkten Teilhabe – und Teilgabe! – unseres Gemeinwesens am deutschen, europäischen und weltweiten Ganzen ins Leben tritt. Möge der Serbski Sejm in den kommenden Jahren zu einem würdigen, würdevollen, klugen, achtsamen, allseits anerkannten und geachteten Repräsentanten unseres Volks heranwachsen! Möge der Serbski Sejm unserem Volk die Stimme geben, die nur wir, die Sorben und Wenden, singen können, um das Konzert der vielen Völker der Welt mit Wohlklang zu bereichern!

Dr. Martin Walde (Měrćin Wałda), Neschwitz

(Der ursprüngliche Text wurde als Rede am 17. November 2018 vorgetragen. Der hier veröffentlichte Text wurde aktualisiert und weicht von der damalige Rede leicht ab.)

2 Gedanken zu „Der Kipp-Punkt ist längst erreicht“

    • Dźakuju so. Přinošk bu za tute wozjewjenje kusk wobdźěłany a aktualizowany. Zwiski z přitomnosću buchu wuzběhnjene.
      Smy so tola rozsudźili napisać, hdy bě tuta narěč w prěnjotnej formje wozjewjena.

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