Foto: V. Z. Budysin

(Post-)Kolonialismus und die Sorben

Nach landläufiger Überzeugung ging die eigentliche Epoche des europäischen Kolonialismus in den 1960er Jahren zu Ende, als die meisten Kolonien in ihre Unabhängigkeit entlassen wurden. In der gegenwärtigen postkolonialen Ära zeigt sich allerdings, dass nicht alle kolonialen Formen oder Denkweisen verschwunden sind und dass die Thematik von hoher Aktualität bleibt. Die Asymmetrien zwischen ehemaligen Kolonialmächten und den von ihnen unterdrückten Völkern bleiben als diverse strukturelle Nachwirkungen, und zwar in verschiedenen Formen indirekter Herrschaft, ökonomischer Abhängigkeiten oder kulturpolitischer Infiltration. (Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 1995, S. 21.)

So zeigt es sich beispielsweise in den USA, dass man Statuen vom Sockel stoßen und Straßennamen umbenennen kann, aber die Voreingenommenheit, welche das Schicksal der einst beherrschten schwarzen Bevölkerung bestimmte und weiterhin bestimmt, hat sich in den Köpfen der weißen Bevölkerungsmehrheit nicht plötzlich in Luft aufgelöst. Der Glaube an ihre faktische Überlegenheit ist nicht dadurch verschwunden, dass etwa die Rassengesetze aufgehoben wurden.

Vor allem Europäer waren es, die hinauszogen, um sich die Welt zu unterwerfen. Und immer noch sind die kolonialen Prägungen ein häufig unterschätzter Faktor, auch in diversen aktuellen ethnischen Konflikten. Doch nehmen in immer mehr Städten, Universitäten und Ländern Initiativen zur Aufarbeitung des Kolonialismus zu. Spätestens der im Auftrag des französischen Präsidenten 2018 erstellte Bericht zur Rückerstattung afrikanischer Kulturgüter hat auch in Europa eine wahrnehmbare politische Diskussion über den Umgang mit ehemaligen Kolonien angestoßen, auch in Deutschland. Erstmals wies der Koalitionsvertrag 2018 zwischen CDU und SPD auf die Aufarbeitung des deutschen Völkermordes an den Herero und Nama des heutigen Namibia hin, der mittlerweile offiziell als Rassismus beziehungsweise als Genozid anerkannt wird. Auch bei der Eröffnung des Berliner Humboldt Forums drängt sich die Frage auf, wie man etwa mit Objekten umgeht, die während der Kolonialzeit als Beutekunst in den Besitz deutscher Museen gelangt sind. Die (damalige) Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte bereits vor fünf Jahren bei der Planung des Forums, es „könne nicht nur ein Völkerkundemuseum entstehen, sondern ein Haus der Debatten“. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier betonte bei der Eröffnung der ethnologischen Sammlungen und des Asiatischen Museums im Humboldt Forum, dass die „deutsche Kolonialmacht Menschen unterdrückt, ausgebeutet, beraubt und umgebracht“ hat. Und er forderte, mehr „Licht in dieses Dunkel zu bringen“, was jedoch nicht nur Aufgabe der Historiker sei. Es gäbe in unserem Land genug blinde Flecken, die aufzuarbeiten sind, nicht zuletzt auch „Rassismus, Diskriminierung, Herabsetzung bis hin zu tätlichen Angriffen und Gewalt“.

Kritiker weisen darauf hin, dass die deutsche koloniale Vergangenheit zwar nicht mehr geleugnet wird, dass es aber nach wie vor Versuche gibt, die tatsächliche Verantwortung klein zu reden oder sich ihr zu entziehen, wenn es heißt, die Forschungslage sei unklar oder es gäbe keine eindeutigen Quellen. Das stimmt, und es stimmt wieder nicht. Denn in den begleitenden Texten des Museums gibt es genug Berichte über das brutale, brandschatzende und mordende Herrschaftsgebaren der Deutschen.

Die Bundesrepublik bekennt sich in ihrer Erinnerungspolitik vor allem klar zum Holocaust des Nazideutschlands, den sie als Kulturbruch darstellt. Was jedoch erschreckt, ist die Gleichgültigkeit der deutschen Politik und Gesellschaft gegenüber dem Schicksal der Sorben. Wenn die Sorben 1300 Jahre im Kopf haben, beginnt die Geschichte der Sorben für die Deutschen als „Minderheit“ erst nach 1945, für manche Politiker halt 1989. Ein Schlussstrich-Denken macht sich breit und ein Zeitalter der geharnischten Unempfindlichkeit gegenüber den Sorben.

Der anerkannte Historiker Wolfgang Wippermann schreibt, dass es zu antisorbischen Äußerungen und Taten immer wieder kommt, welche keineswegs bagatellisiert und verschwiegen, sondern sehr ernst genommen werden sollten, „weil es sich hier um Manifestationen des Rassismus in seiner antislawischen Variante handelt“. Auch hätten viele deutsche Historiker und Publizisten das positive Slawenbild von Herder ad absurdum geführt. Kaum bekannt sei, urteilt er, dass dieser Wandel des deutschen Slawenbildes im Zeichen des aufklärerischen Rassendiskurses gestanden habe. So könne der “Antislawismus genau wie der Antisemitismus und Antiziganismus als eine Variante des Rassismus eingestuft werden.“( Wolfgang Wippermann: Sind die Sorben in der NS-Zeit aus „rassischen“ Gründen verfolgt worden? – In: Lětopis, Bautzen (1996)1, S. 599)

Wer von Ostdeutschland oder Lausitz spricht, kann und darf über Sorben nicht schweigen. Aber weder in Sachsen und Brandenburg noch deutschlandweit gab und gibt es in den Schulen oder Medien einen Diskurs allgemein zu Sorben, geschweige zum deutsch-sorbischen Konfliktverhältnis in Vergangenheit und Gegenwart. Auch ist die Geschichtsschreibung nicht sonderlich darum bemüht, gängige Muster und Klischees aufzubrechen. Freilich gibt es immer wieder einzelne Stimmen von Intellektuellen, die sich kritisch dazu äußern, aber das sind Ausnahmen und eher private Würdigungen, die quer zu dem öffentlichen Diskurs stehen.

Man kann die Vergangenheit nicht ändern, aber man kann die Blindheit gegenüber der Vergangenheit ändern. Wer die überfällige Auseinandersetzung um Kolonialismus und Gerechtigkeit hinsichtlich der gemeinsamen deutsch-sorbischen Geschichte führen wollte, würde Texte und Belege in Hülle und Fülle finden. Nehmen wir beispielsweise die Diskussion in sorbischen Kreisen über die Broschüre „Nation und Minderheit in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Veröffentlichung des Vereins Erinnerung und Begegnung e. V.„ von 2020, deren Veröffentlichung in vielen Facetten als hochproblematisch angesehen wird. Anders als der Titel vermuten lässt, geht die Broschüre weder auf die europäischen Zusammenhänge der Minderheitenfrage im 19. und 20. Jahrhundert noch auf die Situation der nationalen Minderheiten in Deutschland in besonderer Tiefe ein, sondern fokussiert ausschließlich auf die Geschichte der Deutschen und ihrer Vertreibung aus Ostmittel- und Südosteuropa nach 1945. Minderheiten, wie die Sorben, werden zuweilen fahrlässig als Integrationsherausforderung und Unruhequelle dargestellt. Historische wie aktuelle Probleme und Interessenlagen werden kaum aufgegriffen. Für Irritationen sorgt, dass Konflikte nur dann zur Sprache kommen, wenn sie zum Schaden der Deutschen ausgehen. Nationalismus in seiner aggressiv xenophoben Ausprägung erscheint als ein Phänomen, dem die Deutschen lediglich passiv oder als Opfer, ausgesetzt waren. Deutscher Nationalismus, völkische Tendenzen, Alldeutschtum, Antisemitismus und Rassismus spielen in der Darstellung keine Rolle. Beklagt wird vielmehr der Nationalismus der Anderen. Am schwersten wiegt der Vorwurf der völligen Ausblendung von Unrecht und Verbrechen, das an Minderheiten im Namen Deutschlands verübt wurde. Verfolgung und Repression von Minderheiten im NS-Staat werden nicht behandelt. Der Holocaust wird nicht einmal erwähnt. Eine Verwendung der Broschüre an Schulen ist als nicht vertretbar anzusehen.

Die Wurzeln der Vorurteile, Klischees oder Feindbilder gegenüber Sorben liegen aber tiefer. Und sie bilden sich stets neu, wenn die Geschichte nicht aufgearbeitet wird, wenn sie immer nur aus deutscher Perspektive erzählt wird, wenn also die herrschende Mehrheit die Deutungsmacht behält. Auch wären nicht nur historische, sondern gleichzeitig psychoanalytische Methoden erforderlich, um an die tiefer liegenden Schichten der Ressentiments im heutigen Alltag und in der Realpolitik heranzukommen. Geschieht dies nicht, werden Erinnerungen an demütigende Machtverhältnisse, wie wir sehen können, ausgelöscht und durch gesamtdeutsche Anschauungen ersetzt.

Postkoloniale Studien heute

Die Epoche des europäischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts begann im Zusammenhang der Formierung von Nationalstaaten in Europa und wurde u.a. mit dem universalen Anspruch der Werte der Aufklärung und den objektiven Prinzipien der modernen Wissenschaften gerechtfertigt. Im Mittelpunkt stand der rationale, autonome Besitzbürger, welchen nicht zuletzt Aufklärer wie Immanuel Kant u.a. ethisch veredelten. Vor allem war der Westen von der eigenen kulturellen Höherwertigkeit überzeugt, woraus er seine sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrin schöpfte. Dadurch erhielt die westliche Ordnung ihre rechtliche und ideologische Legitimierung und das Kolonialsystem den Anschein von Natürlichkeit, weshalb die angebliche „ Zivilisierungsmission“ des Westens auch unter breiten Bevölkerungsschichten und intellektuellen Eliten seine moralische Anerkennung fand. (Siehe Anm. 1!)

Vor allem Postcolonial Studies oder auch Critical Race Theorien kritisieren heute die Überheblichkeit und Dominanz des Westens und den damit verbundenen Eurozentrismus, mit welchem er der Welt seine Regeln und Lebensweisen aufgezwungen hat und welcher heute mit seiner Krisenanfälligkeit nicht mehr unbedingt als glaubwürdiges Orientierungs- oder Zukunftsmodell taugt. Die Methoden, Menschen als minderwertig zu markieren, sind tief in den Köpfen der ehemaligen kolonialen Gesellschaften verankert und bis heute nur teilweise überwunden. Galten doch die kolonisierten oder indigenen Völker aus ihrer Perspektive als roh-unzivilisiert, primitiv, ungebildet, ihre Kultur auf niederer Stufe stehend. Das vor allem ermächtigte die Kolonialherren dazu, den angeblichen „wilden“ oder „unmündigen“ indigenen Völkern die Verwaltung ihres eigenen Schicksals abzusprechen. Sie zerstörten ihre Gesellschaftsstruktur, griffen tief in ihr Bildungswesen und massiv in ihren kulturellen Wertehorizont ein, was deren Leben und ihre Identität radikal veränderte oder eliminierte.

Auch wenn viele Rassismustheorien im Umlauf sind, gibt es keine geschlossene postkoloniale Theorie. Geht es doch um Prozesse, die immer konkret in der Geschichte der jeweiligen Länder verankert sind und sich höchst verschieden entwickeln. In der Regel ist der Kolonialismus eine Mischung aus Dominanz, Übermacht und Gewalt gegenüber unterlegenen Gruppen und Völkern. Da sie wie Schädlinge oder Ungeziefer betrachtet wurden, konnte man sie sogar töten. Der Ablauf solcher und ähnlicher Prozesse steckt so tief in den Menschen, dass “wir diese Mechanismen erst erkennen, wenn es zu spät ist“. (Dialog an der Schwelle von Auschwitz / Christoph Deselaers, Krakow…, 2011, S. 17) Und er ist keine abgeschlossene Epoche. Trotz der Überzeugung heute, dass alle Menschen ohne Unterschied und ohne Diskriminierung die gleichen Rechte haben, herrschen weiterhin Asymmetrien, die sich in verschiedenen Formen politischen Handelns, in Klischees und abwertenden Denkweisen gegenüber den „Unterlegenen“ niederschlagen. Nicht zuletzt afrikanische Intellektuelle kritisieren die Versäumnisse und Klüngel – auch der eigenen Politiker – und sie fordern die eigene Bevölkerung auf, ihr Denken und ihre alten Gewohnheiten zu verändern, um sich endlich von der offenen oder versteckten kolonialen Bürde zu befreien.

Lange Zeit hat sich die Forschung zum Kolonialismus auf die vom Westen abhängigen Nationen in Afrika, Lateinamerika und Asien beschränkt. Aber die Imperien waren immer auch “zu Hause” präsent, weshalb die kolonialen Verhältnisse nun auch verstärkt in Europa selbst in den Blick geraten. So signalisieren postkoloniale Studien, wie wichtig es ist, die Komplexität der Verhältnisse aufzudecken, welche die Maschinerie des Kolonialismus am Laufen halten.

Post-kolonial erschöpft sich also nicht in einem zeitlichen “danach” und beschreibt nicht einfach die Situation nach dem formalen Ende kolonialer Herrschaft. Post-koloniale Kritik zielt vielmehr auf die Dekonstruktion und Überwindung zentraler Annahmen des bisherigen kolonialen Diskurses. Die wichtigsten Faktoren der Kolonisierung sind in technisch-industrieller Überlegenheit, wirtschaftlicher Ausbeutung oder internationaler Konkurrenz zu suchen, aber nicht nur, sondern fundamental kritisiert wird auch die eingebildete kulturelle Überlegenheit der ehemaligen Kolonialmächte. Dieses Denken ist es ja, dass noch im Nachhinein die kolonialen Ambitionen attraktiv und akzeptabel erscheinen lässt und breiten Bevölkerungsgruppen die Bereitschaft entlockt, die offenen oder verdeckten kolonialen, xenophoben oder rassischen Ideen weiter mitzutragen. Dabei ist oftmals eine gewisse Exotik der fremden Länder und Kulturen im Spiel. Dieser Exotismus ist wiederum latent mit Rassismus verwoben, indem Vorstellungen von angeblich rückschrittlich versus fortschrittlich, Folklore versus Moderne zu Überlegenheitsgefühlen und Unterwerfungsphantasien führten und führen. So werden beispielsweise auch Sorben heute oberflächlich und voreingenommen als Folklore-Völkchen betrachtet, womit sie wiederum marginalisiert und als Gegenwelt zur modernen, deutschen Lebenswelt gesehen werden.

Foto: V. Z. Ein Workshop der sorbischen Band Serbska reja

Politische Partizipation

Die verdeckten xenophoben Einstellungen gegenüber Sorben, ob in Schulen, Kirchen, politischen Ämtern oder in den Familien können mehr oder weniger verdeckt und ungestört weiter wirken. Im Gedächtnis auch der meisten deutschen Politiker spielt die gewaltsame Unterdrückung der Sorben und deren heutige Marginalisierung kaum noch eine Rolle beziehungsweise sie ist den meisten nicht einmal bewusst. Und sie wissen nicht, was es heißt, Staatsbürger zweiter Klasse zu sein – weil sie es einfach nicht sind. Die dunklen Seiten der deutsch-sorbischen Geschichte werden heute nirgendwo reflektiert und sie spielen in den öffentlichen Debatten absolut keine Rolle. Wie wir sehen werden, betrifft das die rechten wie linken Parteien gleichermaßen.

Da Sorben nirgendwo eine wirksame Lobby-Interessenpolitik für sich beanspruchen können und weil die geschichtliche Gewordenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse sich nicht einfach überspringen lässt, ist es notwendig, dazu etwas mehr zu sagen, als eigentlich üblich:

Nach militärischen Eroberungen, unter anderem durch König Heinrich I. und Markgraf Gero im Auftrag Ottos I., mussten die Sorben früh ihre politische Eigenständigkeit aufgeben. Danach und im Zuge des mittelalterlichen Landesausbaus wurden die westslawischen Gebiete – das ist etwa das Territorium des heutigen Ostdeutschlands – immer stärker mit deutscher Bevölkerung besiedelt. Doch die neu angesiedelte fremde Bevölkerung war rechtlich gewöhnlich besser gestellt als die alteingesessene, das heißt autochthone resp. indigene sorbische Bevölkerung. Sorbische Bauern blieben bis auf Ausnahmen Hörige und Leibeigene, die Fronarbeit zu verrichten hatten. Ab 1500 begann sich das sorbische Sprachgebiet auf die Ober- und Niederlausitz sowie einige nördlich und westlich angrenzende Gebiete zu beschränken. Permanent standen sie ohne eine eigene staatliche und kirchliche Obrigkeit unter sozialem, kulturellem und damit vor allem auch unter psychischem Druck. Obwohl als Autochthone auf ihrem angestammten Territorium lebend, galten sie unter den deutschen Herrschaften stets als „Fremde“, „Wilde “ oder „ungebildete Landbevölkerung“, als ein „träges, unwissendes, großer Handlungen unfähiges Volk“. Falls die Sorben überhaupt als eigenes Volk wahrgenommen wurden, dann oft als ein Konzentrat all dessen, was an Fremden bedrohlich erschien.

Der angesehene deutsche Geograf Richard Andree beschreibt 1874 in seinen „Wendischen Wanderstudien“, dass die Machtverhältnisse zwischen Deutschen und Sorben seit dem Mittelalter asymmetrisch waren und dass „das Bürgerwerden den Wenden ungemein erschwert“ wurde. Der Sorbe war ein „Entrechteter“, ein von der „bevorzugten menschlichen Gesellschaft Ausgestoßener“. Das Recht der “Sorben in der deutschen Stadt war nicht größer als jenes der Juden“ gewesen, weshalb sie auch in keine Zunft übernommen wurden. Er wurde nicht einmal für geeignet gehalten, ein ehrliches Handwerk erlernen zu können. Er zählt allerhand andere Diskriminierungen auf, welche er aber für gut und richtig hält. Und überhaupt, wenn der Sorbe fortkommen wollte, sei er gezwungen gewesen, zum Deutschtum überzuwechseln. Andree legt Wert darauf hervorzuheben, dass es einem deutschen Bürger niemals einfallen würde, „das Wendische sich anzueignen“. Schlimmer noch, das Sorbische war „bei schweren Strafen“ verboten, denn jede Nachsicht und „künstliche Sorgfalt für das Slawische“ sei zwecklos. Laut Andree können Sorben gar keine Helden sein. Sie haben lediglich am Ort ausgeharrt, wohl auch gekämpft, aber verloren und am Ende sich aufgegeben.

In den meisten Geschichtsbüchern fehlen auch heute Berichte darüber, wie Sorben physisch, mental und psychisch bedrängt, durch unaufhörliche germanisierende Maßnahmen dezimiert und immer mehr zur Minderheit reduziert wurden. Sorbischen Intellektuellen gelang es nur im geringen Maße, dieses Dilemma aufzulösen, auch heute noch verschweigen sie weitgehend die Folgen dieses Prozesses in der Geschichtsschreibung. Lieber beruft man sich auf die “Objektivität” beziehungsweise “Neutralität” der Geschichtswissenschaft, wohl weil man für loyal, wohlerzogen oder achtbar gehalten werden möchte. Selbst wenn die Probleme als das wahrgenommen werden, was sie sind, fehlt es überall an Kraft und Energie, Potentiale dagegen zu mobilisieren. In dem chancenlosen Kampf, in dem ungleichen Streit ermüdet der Schwächere und irgendwann verliert er seine Würde.

Oder der anerkannte Landeshistoriker Rudolf Kötzschke schrieb 1920, es müsse vor allem der Gefahr der Herausbildung eines eigenen geschichtlichen Bewusstseins unter den „Wenden begegnet werden, alle Ansätze dazu seien energisch zu bekämpfen“ und „als Auswüchse einiger Fanatiker aufzuzeigen. Gerade die Geschichtslosigkeit der Wenden sei ein Garant für ihr beschleunigt zu erstrebendes Aufgehen im Deutschtum“. (Frank Förster, Die »Wendenfrage« in der deutschen Ostforschung 1933–1945. Bautzen 2007 S. 20) Besonders eindeutig war die nationalsozialistische Rassenpolitik gegenüber Sorben. Neben Verboten alles Sorbischen und Ausrottungsabsicht war eine Endlösung der Sorben geplant. Nach dem ,,Endsieg“ sollten sie als ,,führerloses Arbeitsvolk“ in ein Generalgouvernement deportiert und der „Vernichtung durch Arbeit“ zugeführt werden. Zu einem Endsieg ist es nicht gekommen, weshalb die „endgültigen Lösung des Wendenproblems“ ausblieb.

Egal, welche Geschichtsepoche, Herrschafts- oder Regierungsform bestand, Sorben wurden stets als Unterprivilegierte oder Fremde auf ihrem eigenen Territorium behandelt. Nie hat es an Interventionen, Gängelungen und auch an kruder Gewalt gefehlt. Die Psychologin Karin Bott-Bodenhausen betont in ihrer Arbeit über Sprachverfolgungen in der NS-Zeit unter anderem: „Das Selbstwertgefühl vieler Sorben hat durch die jahrhundertelange Unterdrückung stark gelitten. Bereits vor 1933 genoss das Sorbische wenig Prestige in der deutschsprachigen Umwelt. Sorbisches Sprechen in der Öffentlichkeit wurde für viele Menschen nach Hitlers Machtergreifung zu einer konkreten Gefahr. Konnte man vorher mit der Missbilligung der Muttersprache noch leben, wurde die Anwendung jetzt unmittelbar bedroht. […] Jeder, der sorbisch sprach, machte sich so quasi zum Straftäter.“ Viele Sorben, so die Autorin, fühlten sich deshalb von der Gesellschaft ausgeschlossen und zurückgedrängt. Nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur erschien die Aufhebung des Verbots alles Sorbischen für viele Sorben kaum fassbar, so wie es eine sorbische Zeitzeugin ausdrückte: „… dass das möglich ist, dass wir richtige Menschen sind“. ( Bott-Bodenhausen 1997, S. 49) Beispielsweise die Vorstellungen, der Sorbe sei minderwertig, abergläubisch oder misstrauisch, war noch vor Jahrzehnten auch unter den deutschen evangelischen und katholischen Kirchenhierarchien allgegenwärtig. Allgemein verbreitet und unzerstörbar war die Unterstellung, dass sich das Evangelium in der sorbischen Sprache nicht verkündigen lasse, weshalb das Sorbische keine Existenzberechtigung hätte und die Germanisierung geboten sei. Das Recht der Sorben auf die Anwendung der eigenen Sprache war in den kirchlichen Institutionen, auch der katholischen, nirgendwo verankert. Sorbische Geistliche haben diese Ansprüche stets gegen den Willen der deutschen Kirchenobrigkeit erstritten und immer wieder neu eingeklagt. Die Übersetzung der Bibel oder sämtliche redaktionelle Arbeiten verrichteten sie generell unentgeltlich neben ihren amtlichen Pflichten, und finanzierten den Druck sorbischer Schriften selbst. ( Rudolf Kilank: Die katholischen Sorben seit der Wiedererrichtung des Bistums Meißen 1921-1973, Dokumentation (unveröff. Manuskript), o.O., o.J., [1974])

War die Nationalitätenpolitik der DDR im Vergleich zu früheren Epochen ein gewisser Fortschritt – so entstanden einige staatliche sorbische Institutionen, von denen die wichtigsten heute noch bestehen – so stieß die Minderheitenpolitik auch hier klar an system-bedingte Grenzen. Und heute stellt sich die Frage, auf welches System dies nicht zuträfe? Auch der nach der politischen Wende 1989 nicht geführte Diskurs über die diffizilen deutsch-sorbischen Beziehungen führt dazu, dass die Vorurteile zwischen beiden Ethnien nicht verschwinden. Die beschriebene Asymmetrie zwischen Deutschen und Sorben ist auch in der von liberaler Demokratie geprägten Gesellschaft nicht wirklich aufgehoben. Deren Assimilierung beziehungsweise Germanisierung geht ungehindert und zusehends weiter, dass sogar ein Teil der Sorben diesen Prozess als „normal“ betrachtet. Selbst der Vorsitzende des Domowina-Vereins hält die Assimilation für unausweichlich und sagt, „es ist Fakt, dass die Sorben untergehen“. Vielen fehlt die Fantasie, dass eine Kultur und Sprache unter günstigeren Verhältnissen, mit Kreativität und selbstbewusster kollektiver Anstrengung eine Art Renaissance erleben kann.

Postkolonialismus und demokratische Parteien

Tatsächlich treten in liberalen Demokratien eklatante Probleme auf, wenn eine Mehrheits- auf eine ethnische Minderheitsbevölkerung trifft. Die Konflikte beginnen schon, wenn beispielsweise die (deutsche) Mehrheit aufgrund ihrer dominanten Position selbstsicher die Regeln aufstellt, nach denen gehandelt wird respektive wie die gesellschaftlichen Ressourcen verteilt werden. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie wichtig und notwendig die Beschäftigung mit dieser Problematik ist und dass sie ein empfindliches Desiderat darstellt.

In einer seiner Studien setzt sich der Soziologe Fritz B. Simon mit Macht- bzw. Herrschaftsansprüchen zwischen Gruppen auseinander, die zu den so genannten Gewinnern und Verlierern gehören. Er zeigt, wie bereits sportliche Wettkämpfe das Beobachtungsschema „Sieger und Verlierer“ liefern. Wie schwierig Konflikte im politischen Kontext zu bewerkstelligen sind, sehen wir beispielsweise an der Blockadehaltung in den USA zwischen den Republikaner und Demokraten.

Die Idee des Sieges, des Helden, seines Triumphs und seiner drohenden Demütigung gehört aber zu den ältesten handlungsleitenden Denkfiguren auch in der europäischen Kultur. Sie liefert das Modell der Interaktion und Kommunikation, nach dem die alten Mythen wie auch die modernen Hollywood-Drehbücher konstruiert sind. (Fritz B. Simon: Die Macht des Verlierers. In: Süddeutsche Zeitung (Feuilleton-Beilage) (14./ 15.7.2001), Nr. 160) Wird dieses Muster jedoch auf das Verhältnis einer ethnischen Mehrheit einerseits und Minderheit andererseits übertragen, in denen nicht mit dem Ende der gemeinsamen Geschichte gerechnet werden kann, findet das Phänomen des Sieges seine Fortsetzung in der Hegemonie des Gewinners. Wo die Konfrontation nicht aufgegeben wird, bleibt der Konflikt chronisch, wie an den seit sechzig Jahren schwelenden Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinenser zu beobachten ist.

Die Lösung eines solchen Konflikts muss bestenfalls mit dem Identitätsgefühl, dem Image, den Vorstellungen von Ehre und Status auf beiden Seiten der entsprechenden Konfliktgesellschaften vereinbar sein. Das geht aber nur, wenn verhindert wird, dass eine der Parteien sich als Verlierer sehen muss. Dies kann nur durch entsprechende Kompromisse aller am Konflikt Beteiligten verhindert werden. Stehen sich Systeme, wie wir es im Nahen Osten sehen, als Kontrahenten gegenüber, ist die Möglichkeit der „völligen Vernichtung“ des Gegners fast immer ausgeschlossen. Denn was sie am Leben erhält, ist nicht nur das physische Überleben ihrer Mitglieder, sondern die Fortsetzung der sie als Einheit begründenden und von anderen sozialen Einheiten abgrenzenden Kommunikationen. Simon wird noch konkreter: „Die Sitten und Gebräuche einer Kultur oder Subkultur oder einer Religion mögen gewaltsam eine Zeit lang unterdrückt werden“, auch ihre Organisationen und Institutionen mögen aufgelöst sein, „sie können aber jederzeit wieder belebt werden, solange es noch Menschen gibt, die diese Kommunikationsweisen kennen“ und wo das Gedächtnis von Individuen für das Überleben sozialer Systeme nutzbar gemacht werden kann. „Dies ist der Grund, weshalb überall dort, wo es um die Auseinandersetzung zwischen sozialen Systemen (wie Religionen oder so genannten ethnischen Einheiten) geht, die Idee des Sieges immer zur Idee der Endlösung als Vernichtung von Menschen wird – und weshalb sie in der Regel nicht funktioniert. Denn es ist nahezu unmöglich, alle Mitglieder einer sozialen Einheit zu vernichten und damit die Erinnerung an die soziale Identität stiftenden Regeln der Kommunikation zu beseitigen. Solange es Menschen gibt, die sich als Juden, Armenier, Christen, Palästinenser usw. definieren, überlebt das soziale System ´die Juden´, die ´Armenier´ etc.“. (Christoph Menke: Spiegelungen der Gleichheit. Berlin 2000, S. 132)

Was aber geschieht, wenn der Verlierer sich mit seinem Schicksal – wie zum Beispiel die Sorben – abfindet, weil es bereits zu schwach geworden ist für Auseinandersetzungen, die Demütigungen und Marginalisierungen aber weiter gehen? Im Falle eines demokratischen Staates, wie der BRD, könnte man meinen, hier leben alle, auch ethnische Gruppen, in einer „neutral“ funktionierenden Demokratie, die allen die gleichen Bedingungen für ihre soziale oder kulturelle Entfaltung gewährleistet. Diesem Trugschluss von einer allgemeinen Neutralität der liberalen Demokratie tritt der Philosoph Christoph Menke entgegen. So zeichneten sich gegenwärtige Demokratien zunächst dadurch aus, dass sie zwar allen einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft den gleichen politischen Status verfassungsmäßig zubilligen. Die politischen Rechte sind kulturell neutral, das heißt, es herrsche eine strikte Trennung von Kultur und Politik. Wer dies behauptet, und hier erfolgt der entscheidende Einwand von Menke, übersieht freilich, dass die Prinzipien liberaler Gleichheit letztendlich gar nicht anders als vom Standpunkt bestimmter kultureller Sicht- und Wertungsweisen angewandt werden können. Zu jedem Zeitpunkt und an jedem bestimmten Ort ist die Geltung liberaler, demokratischer Gleichheit in der Endkonsequenz die Herrschaft einer bestimmten kulturellen Sicht- und Wertungsweise. Das bedeutet „Unterdrückung oder zumindest Marginalisierung anderer und am Ende die Herstellung kultureller Homogenität bei Durchsetzung kultureller Hegemonie“. ( Christoph Menke: Die Dunkelzone der Demokratie. In: Die Zeit (2001), Nr.15, S. 47; Christoph Menke: Spiegelungen der Gleichheit. Berlin 2000, S. 132)

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Martin Walde (Měrćin Wałda)

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